So viel Zeit muss sein

So viel Zeit muss sein - Ausstellungsansicht

Ich kam gerade aus der letzten Vorstellung des Nipple Jesus von Nick Hornby im Kleinen Haus. Es war Freitag Nacht und nebenbei bemerkt eine extraklasse Ein-Mann-Vorstellung, in der ein Museumwachmann in Alltagssprache seinen Zugang zur Kunst beschreibt. Um der stressigen Arbeitswoche noch weiter zu entfliehen, folgte ich einer persönlichen Einladung zu einer Vernissage im Salon Pendant.

Vor dem Hauseingang der Förstereistraße 46 standen die Menschen in Grüppchen bis auf die Straße. Der kleine „Offonspace“ befindet sich in einer kleinen Mietwohnung im Erdgeschoss und wird von Kai Frommelt und Anne Kern organisiert. Nur noch bis Mitte des Jahres können dort Ausstellungen gemacht werden, dann endet der Zwischennutzungsvertrag. Umso mehr lohnt sich ein Besuch in dem kleinen Refugium junger zeitgenössischer Kunst.

Noch bis zum 31. Mai sind Arbeiten der Künstler Stephan Ruderisch, Johanna Rueggen, Paul Moran (Pseydonym) und Lars Kohl zu sehen. Besonders die Arbeiten von Kohl interessierten mich an diesem Abend. Eine Reihe Kleinstformate mit Titeln wie PacificDu und ichEin Korb, Am Fenster oder Traumland wollte ich mit meinen Augen liebkosen. So melancholisch, süß und zart sich die Mischtechnik auf Papier bei Kohl auch gebar, der rollende Bass von Ruderischs musikalischer Performance verzögerte meinen visuellen Appetit. Hart, maschinell und schnell donnerte der Hard-Techno durch die Boxen. Alle Leute in der Ausstellung müssen ganz nah bei einander stehen, damit sie sich in den kleinen Räumen und dem lauten Sound unterhalten können.

In Zeiten, in denen russische Militärfahrzeuge durch Sachsen rollen, Montagsdemos sich von Leipzig in ganz Deutschland ausbreiten und Medien einseitig zu berichten scheinen, holt die Realität jeden Bürger massiver ein als „normalerweise alltäglich“. Und gerade dann, sollte man in eine Kunstausstellung gehen, dachte ich mir. Denn wie meine Großmutter immer zu sagen pflegte, ist der Mensch ein zitterndes Hemd, hätte er nicht seine Kunst und Kultur. Der Titel der Ausstellung „Soviel Zeit muss sein“ trifft den Nagel somit auf den Kopf.

Ein Pult in Zeltplane mit Tarnmuster eingepackt, davor der Gettoblaster, daneben eine Palme, dies sind die Bestandteile des Arrangements. Alles steht auf eine zweiten Zeltplane unter der sich kleine Sandhäufchen hervor schieben. Eine Wasserflasche mit Halterung an der Seite des Pultes und schon ist das kleine Paradies beschrieben. Ruderisch steht hinter dem Pult und spielt über einen Laptop die Musik, dabei blickt er verschmitzt, nickt mit dem Kopf und schwingt die Hüften im Takt.

Trotz oder wegen der lautstarken Technomusik, die ich als ein Bild unserer schnell-getacktete Zeit interpretiere, gelingt es mit ein wenig Zeit, diese als ein verzückendes „Mehr“ wahrzunehmen. Mehr als nur Untermalung beflügelte der Sound meine Reflexion der Bilder von Kohl. Jetzt konnte ich mich in die Malereien hinein träumen. Ich folge den Farbverläufen, blicke durch Transparenten und verstricke mich in Strukturen. Ehe ich mich versah, war ich von der malerischen Poesie verführt.

Die organisch gewachsenen Kompositionen erzählen vom Wechselspiel von Transparenz und Tarnung. Das Papier wellt sich, ist zerknittert oder zeigt Risse. Das Trägermatierial ist sichtlich geschunden vom wässrigen Farbauftrag. Kohl lässt durch diese Technik dem Zufall unendlich Raum. In diesem Raum ergeben sich Formen, welche Kohl zuspitzt indem er bewusst und mit Rücksicht den pastösen Strich setzt. Kohl erfindet das Bild beim Malen.

Der Zufall erzeugt zwar Strukturen, die faszinieren und Materialität vortäuschen, doch es sind die dreckigen, leisen Pastelltöne, welche die skurrilen und verlassenen Orte zum vibrieren bringen. Unheimlich und befremdlich wirken die Alltagsmotive wären da nicht die kleinen dezent gesetzten und liebreizenden Farbtupfer. Diese funkelnden Perlen erklingen so kindlich im Schlamm der Tristesse, dass ich sichtlich gerührt bin. Diese kleinen Bilder zeugen von seiner ganz eigenen Welt.

Ein Künstler ist als ein Prinz ohne Reich zu verstehen, meint Wolfgang Ullrich. Er wird zwar bewundert und ehrfürchtig behandelt, hat aber wenig zu melden und meistens nicht einmal Resonanz. Der Künstler darf sich zwar als etwas besonderes fühlen, aber eigentlich lebt er in einer ganz eigenen Welt, die auf die Welt der großen Mehrheit der Menschen selten Einfluss besitzt. Doch wenn man ihm feinfühlig Gehör, interessierte Blicke und genügend Zeit schenkt, lässt er dich mit seinen Sinnen die Welt der großen Mehrheit aus ungeahnt präziser und distanzierter Perspektive in dir erkennen.