Recherche techno-experiementeller Situationen in der Kunst

Aktuell überführen viele Institutionen wie Theater, Oper, Konzerthäuser als auch Clubs und zahlreiche freiberufliche Kunstschaffende ihre künstlerischen Darbietungen in die digitale Sphäre des Internets. Diese mediale Gebrauchsweise dient, wie Uwe Mattheiss in seinem taz-artikel schreibt, in einer ungünstigen Weise der (Selbst-)Ausbeutung.

Die Intention vieler Kunstschaffenden, das Analoge 1:1 ins Digitale übertragen zu wollen, offenbart eine verkürzte Gebrauchsweise von Medientechnologien, die die Konsequenz der gegenseitigen Unterwerfung bzw. Ausbeutung von Mensch und Medientechnik zur Folge hat und mit einer Nicht-Wahrnehmbarkeit (Unsichtbarkeit) einhergeht.

Die Suggestion purer Unvermitteltheit ist ein Trugschluß. Die Übertragung ins Digitale bedeutet zunächst ein Verlust an Mehrdeutigkeit und Multivalenz, kurz ein Verlust an Qualität und Leiblichkeit. Doch etwas Neues kommt durch die Eigenlogiken der jeweilig eingesetzten Medientechnologien und deren zahlreichen Übersetzungsleistungen hinzu, wie bspw. Störgeräuche, Zeitverzögerungen oder Bildfragmentierungen.

Es müssen neue Formate her, die das Potenzial von Medientechnologien wertschätzen, um eine neue Kultur des Digitalen zu fördern bzw. überhaupt muss diese erst eingefordert werden. Wie kann eine neue Kultur des Digitalen aussehen und wirken?

Mit meinem kritischen Text zur gegenwärtigen Streaming-Kultur (fortlaufend) habe ich mich entschlossen, meine Recherche zu dieser Forschungsfrage zu intensivieren. Diese Recherche wird durch ein zwei-monatiges Arbeitsstipendium („DENKZEIT“) der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen finanziell ermöglicht.

Rahmung

Mein Ziel ist es, mindestens zehn medienkünstlerische Arbeiten im Zeitraum von 1990 bis Jetzt zu analysieren. Die Rahmung meiner Recherche ist (noch) recht offen und soll Arbeiten aus allen Genres umfassen.

Meine hier getroffene Auswahl an Werken basiert auf einer Emailanfrage an Personen, die sich mit (medien-)künstlerischen Werken professionell in Forschung und Management auseinandersetzen. Ich danke Klaus Nicolai, Thomas Dumke, Denise Ackermann, Konstanze Schütze, Svetlana Chernyshova, Martina Leeker und dem Megabody-Netzwerk für ihre weiterführenden Hinweise.

Mit einem stereoskopischen Blick suche ich nach techno-experiementellen Situationen, die:

Medientechnologie als Existenzweise wertschätzen

Folgende Ereignisse sollen (teilweise) produktiv in den Gestaltungsprozess mit einbezogen sein:

  • Störungen in der Vermittlung, welche die technische Existenzweise „sichtbar“ werden lassen. Dies können z. Bsp. Bildfragmentierungen, Zeitverzögerungen, Glitches etc. sein.
  • Unbestimmtheiten. Obgleich die digitale Vermittlung auf deterministischen Gesetzmäßigkeiten beruht, so können doch Pseudozufallszahlen generiert werden oder andere „Fehler“ (Bugs) strukturell und funktionell etwas „Neues“ entstehen lassen und somit die eingesetzte Medientechnologie in ihrer spezifischen Eigenart „sichtbar“ werden lassen.

Den lebendigen Körper in seiner Ganzheitlichkeit wertschätzen

Folgende Eigenschaften sollen mit einbezogen sein:

  • Unbestimmtheit, die in Relation zu Unbegrenztheit steht und aus dieser erst Qualitäten hervorgehen.
  • Propriozeption/Eigenbewegung: Anstatt starrer Identitäten soll die leibliche Bewegung im Vordergrund stehen.
  • Synästhetischen Fähigkeiten: Die Verschaltung unserer Sinne soll forciert sein.

Zusammenfassend ist mir wichtig, dass die ausgewählten Arbeiten eine begrenzte Offenheit in ihren techno-aisthetischen Settings aufweisen, d. h. zwar einerseits eine definierte Grenze zu anderen (alltäglichen) Situationen haben – damit ein Spiel als solches erkannt wird. Andererseits muss diese Begrenzung offen genug sein sowie innerhalb dieser Begrenzung eine gewisse Unbestimmtheit existieren, um Emergenzen entstehen lassen zu können.

Mich interessiert dabei:

  • Name Kunstschaffender
  • Titel des Werks, Produktionsjahr
  • Verwendete Werkzeuge und der technische Aufbau
  • Art der Dokumentation (Video, Text, live erlebt?)
  • die Performativität, d. h. wie und auf welchen Wegen Interaktionen bzw. Intraaktionen stattfanden
  • Evaluation nach oben genannten Kritierien

Diese Recherche und deren Analyse soll dann im Weiteren zu Ansätzen einer neuen digitalen Interaktionstechnik führen. Deren mediale Gebrauchsweise soll sowohl eine Produktions- als auch Repräsentationsplattform darstellen nach dem Prinzip der Live-Performance, mglw. mit Interaktionselementen durch ein Publikum. 

Recherche

(wird fortlaufend aktualisiert und erweitert)

Forced Entertainment: End Meeting For All (April 2020)

Mit End Meeting For All hat die Theatergruppe Forced Entertainment im Zuge des Lockdowns ein drei-teiliges Online-Projekt entwickelt. Die Kompanie betrachtet das gerasterte Interface der Zoom-Meeting-App als eine Art Bühne. Alle drei Teile sind auf youtube veröffentlicht.

Diese Produktion ist beauftragt durch das Bündnis Internationaler Produktionshäuser, d. h. eine Koproduktion von HAU Hebbel am Ufer (Berlin), Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt a.M.) und dem PACT Zollverein (Essen) und gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie präsentiert im Rahmen von #HAUonline.

Der Initiator Tim Etchell beschreibt die Idee dazu wie folgt:

As theatre makers who’ve long had an interest in collage as a methodology, something chimed with this, and with the way that the grid of screens brought together different partially connected realities in different cities, the screen a kind of membrane or imperfect portal between worlds.

A note on “End Meeting for All” by Tim Etchells (https://www.hebbel-am-ufer.de/hau3000/falling-into-place/)

Aus ihren je unterschiedlichen Umständen heraus und von zu Hause aus, teilen sie ihre Ängste, Wünsche und Hoffnungen, die durch die Pandemie entstehen. Das Format der Online-Treffen verbindet zwar die Mitglieder der Theatergruppe, trennt sie jedoch gleichzeitig.

Die Beschränkungen durch die Pandemie spiegeln sich somit in der Form der Bildschirm-Rasterung wider. Die „Galerieansicht“ der Zoom-App wird nicht verändert (z.Bsp. in die Sprecheransicht), so dass jeder der sechs Teilnehmenden in seiner beschränkenden Rahmung – seinem/ihrem Bühnenraum – verharrt. Die Offenheit der Performance wird technisch beschränkt, wodurch jedoch das eigentliche Spiel erst entsteht.

Während ein Telefonat oder Klingeln an der Wohnungstür im Off des Bühnenraums beantwortet werden, bleiben Fragen und Rückfragen innerhalb des Online-Meetings unbeantwortet, wie bspw. „Has it startet?“, „Can anyone see me?“ oder „Are you acting?“.

Die Wandelfähigkeit der Performance zeitigt sich einerseits im ständigen Wechsel von Kostümen und andererseits durch den steten Wechsel zwischen schauspielerischer Aktion und dessen Meta-Ebene, auf der jene Aktion erklärt wird. Dabei kommt es aber immer wieder zu Verständigungs- und Verständnisproblemen (melancholic – alcoholic).

Die damit einhergehenden unstimmigen Intentionen der Akteur*innen entstehen technischerseits u. a. durch Störungen auf der auditiven Ebene, die durch eine schwache Internetverbindung hervorgerufen wird („You sound like under water.“).

Aus diesem Umstand heraus werden Text-Passagen mehrfach wiederholt, wobei jede Wiederholung wieder neue Störungen mit sich bringt. Die sich entfaltende sozio-technologische Situation windet sich in einer Art endlosem Schwebezustand und spiegelt auf frappierende Weise den Kontext der Pandemie wider.

Störungen in der gemeinschaftlichen Performance bringen auch die unterschiedlichen räumlichen Situationen mit sich. So ist ein Kamerabild nahezu komplett überblendet und die Figur kaum sichtbar durch das einfallende Sonnenlicht. Durch die Rahmung des Kamerabildes ist manchmal nicht das Gesicht, sondern die Brust einer anderen handelnden Figur zu sehen. Während alle Kameras statisch sind, bringt eine bewegte Kamera (mit dem Smartphone durch die Wohnung laufend) eine chaotische Dynamik in die gerasterte ‚Bühnenansicht‘ und bricht damit versuchsweise den Schwebezustand.

Diese Gleichzeitigkeit von Aktionen, die jedoch immer nur fragmentarisch auftauchen und abrupt wieder enden, schafft eine groteske techno-experimentelle Situation, die sich jedoch nie vollständig auflöst. So berichtet ein Mitglied in größter Traurigkeit von ihrer Einsamkeit und ein anderes Mitglied lacht aus dem Off aufgrund des Telefongespräches.

Gerade die Offenlegung von sozio-technologischen Widerständigkeiten, Beschränkungen und Störungen verdeutlicht, wie sehr technologisch bedingte Ermöglichungsräume als ein diplomatischer Aushandlungsort begriffen werden müssen. Es ist genau dieser ständige Prozess der Kompromiss-Suche, in welchem sowohl „elektronische Fehlleistungen“ als auch künstlerische wie menschliche Missverständnisse in die Performance produktiv mit eingebunden werden, der mich fasziniert.

Als Zuschauerin bleibe ich – obgleich die Zoom-App technologisch das Potenzial zur Interaktion bereithält – außen vor. Ich bleibe eine stumme Betrachterin, die neugierig und ungesehen einen Blick in die Wohnzimmer der Schauspieler*innen wirft, wenngleich ich sowohl das atopischer der Situation als auch die technischen Probleme tief nachempfinden kann.

Antoine Schmitt: City Lights Orchestra (2013)

Auch die Arbeit City Lights Orchestra des französischen Künstlers und Programmierers Antoine Schmitt ist Screen-basiert, erweitert jedoch das leuchtende Milieu des Bildschirms auf die Rahmungen der Fenster ganzer Wohnhäuser. Der Inhalt dieser Rahmung ist der pulsierende Rhythmus des Lichts. Auf der Webseite https://citylightsorchestra.net/ finden sich Anleitung und das Programm. Das partizipative Werk wurde am 26.04.2020 während der Ausgangsbeschränkungen in Paris wieder aufgeführt.

Diese Arbeit verbindet die Wohnzimmer der Stadt zu einem visuellen Orchester über das Material Licht. Dabei wird das heimische Flimmern, Blinkern, Pulsieren des Home-Screen über die Stadtfenster hinaus in den urbanen Raum transferiert und durch ein Programm zu einer visuellen Symphonie orchestriert. Das Programm ist von Schmitt entwickelt und umfasst verschiedene Licht-Taktungen, so dass die Stadtfenster ein „mehrstimmiges“ Orchester ergeben. Und obgleich es sich dabei um ein visuelles Phänomen handelt, ist das Lichtorchester aufgrund menschlicher, synästhetischer Vermögen in gewisser Weise auch hörbar.

Diese Installation funktioniert mit einer unbegrenzten Zahl an Teilnehmenden, die jedoch zur gleichen Zeit und wenn es dunkel ist, ihre Bildschirme mit der Licht-Symphonie entsprechend zum Fenster ausrichten. (https://citylightsorchestra.net/howto_en.html). Zwar ist die menschliche Teilnahme auf die Einrichtung der Monitore (und wieder dessen Abschalten) beschränkt, dennoch initial. Damit wird deutlich das Menschen als Mediateure zwischen den Maschinen agieren.

Die eigentliche Performance führt die Medientechnologie (Computer und Bildschirm) aus. Die einfache Zurückführung auf elektronische Licht-Signale und dessen An/Aus entfaltet eine enorm poetische, ästhetische Dimension für seine Betrachter*innen, sofern diese die eigenen vier Wände verlassen und sich durch die licht-orchestrierten Straßen bewegen.

Blue Lab (Jörg Sonntag) und Palindrome (Robert Wechsler): Ohne Titel (1999)

Ende der 1990er Jahre experimentierte eine Gruppe Künstler mit den Potenzialen der Internet- Netzwerktechnik. Aus der von Palindrome (Robert Wechsler und Frieder Weiß) zur transmediale 1999 vorgestellten Skizze press escape entstand eine Zusammenarbeit zwischen Palindrome und dem blue lab Dresden (Jörg Sonntag). Via eines Videokonferenzsystems wurde eine Verbindung zwischen der Blauen Fabrik in Dresden und der Technischen Universität Nürnberg eine Verbindung hergestellt.

Anders als heute das visuelle Register mit den Medientechnologien priorisiert wird, stand damals vor allem das auditive Vermögen im Vordergrund: Netzwerktechnik wurde gespielt. Ein wesentliches Merkmal damaliger Technik waren Delays, d. h. Verzögerungen in der Übertragung, die produktiv in den Schaffensprozess einbezogen wurden.

Leider gibt es davon keine Dokumentation, da das Projekt abgebrochen wurde und lediglich Zeitzeugen mir davon berichteten.

European co-operation: European Tele-Plateaus (2008-2014)

Dennoch entstand aus diesem ersten Versuch der translokalen Vernetzung und weiteren lokalen, interaktiven Projekten durch Klaus Nicolai (Trans-Media-Akademie Hellerau e.V.) schließlich dieses Projekt. Zur CYNETART 2008 startete die Trans-Media-Akademie Hellerau gemeinsam mit Partnern aus Madrid, Norrköping und Prag das Projekt »European Tele-Plateaus – Transnationale Räume der Begegnung und Co-Produktion«. Die bis 2010 durch die Europäische Union geförderte Vernetzung von virtuellen Umgebungen gründet auf langjährigen konzeptionellen und praktischen Aktivitäten der TMA.

Die Entwicklung dieses mehrjährigen Projektes wurde finanziell unterstützt durch die Europäische Kommission. Neben einer DVD und Publikation stand mir der künstlerische Leiter des ETP-Projektes Klaus Nicolai für ein Gespräch zur Verfügung. Er schrieb über die Vision des Projektes:

The human body itself is the determining interface of communication! The technical-artistic configuration offers the general audio-visual, sensoric and cybernetic framework serving as dynamic, synaesthetic or kinaesthetic „transformers“ of performing interactions Every user of the virtual, translocal interaction site can take part in the technical and artistic design him- or herself and create his or her own „environment“.

Klaus Nicolai, European Tele-Plateaus, S. 9

Das in Zusammenarbeit von Frieder Weiß (Palindrome) und Matthias Härtig (TMA) entwickelte Kalypso-Programm bildet dafür die software-technische Voraussetzung dieses Projektes. Es ist ein Video-Bewegungserfassungs-programm, welches speziell zur Verwendung mit Tanz, Musik und Computerkunst entwickelt wurde. Hardware-seitige Voraussetzungen sind jeweils ein Windows-PC mit entsprechender Grafikkarte, eine analoge Video-Infrarotkamera (Kinect) zum Bewegungstracking, ein Videoprojektor zur Bildausgabe und ein Soundsystem zur Audiowiedergabe.

Auf einem 8x6m Podest (Plateau) werden die Körperbewegungen des Menschen durch die Infrarotkamera nachverfolgt und die Parameter aus ein Bibliothek an Ton-Samples und Videobildern durch Kalypso übersetzt. Das audiovisuelle Feld war also prädeterminiert und je nach Bewegungsrichtung und -dynamik ausgelöst. Somit stellt diese interaktive, medienkünstlerische Arbeit einen Ermöglichungsraum dar. Nicolai bezeichnet die Installation als ein Instrument, welches leiblich gespielt wird.

Die zweite software-seitige Voraussetzung ist OSC (Open Sound Control)! Erst durch die OSC-Protokolle wird die translokale Vernetzung und Interaktion ermöglicht. Dadurch konnten audiovisuelle Signale der jeweils anderen Städte mit auf das eigene lokale Plateau integriert werden. Steht man also in Dresden auf dem Plateau sieht und hört man die Bewegungen aus Madrid, Norrköping und Prag.

Bevor Besucher sich auf den Plateaus ausprobieren konnten, performten Tänzer*innen an den jeweiligen Orten in fünf Akten ihre Aufführung: Prag spielte das Schlagzeug, Madrid spielte verschiedene Synthie-Klänge, Norrköpingen die Streicher und Dresden das Pizzicato der Streicher.

Durch die Vernetzung und Gleichzeitigkeit entstand eine Hyperbühne, auf welcher der physisch abwesende Andere/Fremde leiblich spürbar wird, d. h. durch die Dynamik der audiovisuellen Übersetzung präsent ist. Schließlich führt diese Dynamik zu neuen Bewegungen und Übersetzungen. Die leibliche Dimension, die durch diese translokal vernetze, interaktive Hyperbühne entstand ist für Außenstehende kaum nachvollziehbar. Gerade bei diesem Projekt wird das Involviert-Sein zur Voraussetzung des Erlebens.

Aufgrund der Komplexität kam es auch zu technischen Störungen. Weil pro Körper ein bestimmtes Sample durch Bewegung modifiziert wurde, sprangen die Samples – wenn mehrerer Körper auf dem Plateau aktiv warne – von einem zum anderen Körper über, womit zwar Lücken in der Nachvollziehbarkeit von Aktion und audiovisueller Reaktion entstanden. Doch andererseits verdeutlicht diese Störung auch, dass hier keine starren Identitäten intendiert sind. Anstatt von starren Identität steht hier die Bewegung, das Fließen im Vordergrund.

Jaime del Val: METATOPIA (2016)

In eine ganz ähnliche Richtung und auch als „Instrument“ bezeichnet, funktioniert das Projekt METATOPIA (https://metabody.eu/metatopia/) von Jaime del Val (Reverso). METATOPIA ist eine nomadische, interaktive und performative Umgebung für Außen- und Innenräume, in welcher dynamische physische und digitale Architekturen mit 3D und multisensorischer Immersion verschmelzen, wobei der Schwerpunkt auf Unbestimmtheit, Unvorhersagbarkeit und der offenen Beziehung zwischen Körpern und der umgebenden Umwelt liegt. Das medienkünstlerische Projekt ist über 20 Jahre gewachsen und äußerst facettenreich. Daher entstanden diverse Ausprägungen, das mal als kinästhetische Installation namens METASCULPTURE oder mal als immersive Performance namens METAFORMANCE in Erscheinung tritt.

Metatopia ist eine europäische Ko-Produktion des Metabody-Projektes und gefördert durch das Kulturprogramm der EU, dem spanischen Ministerium für Bildung, Kultur und Sport sowie vom National Institute of Performing Arts and Musik (Spanien).

There is a diffuse guerrilla of Metabody agents that aim at deprogramming the hypercyborg (Big Data Brother) through mobilizing unquantifiable movements, untraceable behaviors, emergent perceptions and illegible affects, towards increasing diversity of bodies and behaviours, infusing indeterminacy into the system.

Jaime del Val, METATOPIA, S. 6f.

Aufgrund der Vielschichtigkeit und Komplexität des Projektes interviewte ich den künstlerischen Leiter Jaime de Val zur Idee, zum Entstehungsprozess, der Funktionsweise und über die Rolle des Publikums. Als Wahrnehmungsforscher, Philosoph, Tänzer und Künstler sind bei ihm Theorie und Praxis eng miteinander verwoben, wobei die Praxis die Theorie an leibhaftiger Erfahrung nährt und die Theorie wiederum jeweils seine Praxis transformiert.

Ausgangspunkt seiner Forschung ist die Frage, wie der menschliche Körper durch Bewegung einen Raum kreiert und moduliert. Gerade mit der immersiven Erforschung des Bewegungssinn – der Propriozeption – entfalte sich Wahrnehmung als ein infiniter Prozess, der plastisch ist und fähig zur ständigen Neu-Konfiguration. Entscheidend ist für del Val eine Wahrnehmungs-Situation des „Dealignment“ zu schaffen, um etablierte Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen: „How do I involve propriozeption in a non-reductive way?“, fragt del Val. Die damit verbundene Praxis nennt er „Onto-hacking“.

Der zufällige Fund eines Pop-up Zeltes auf der Straße gab den Anstoß für die Materialisierung dieser Idee. Die flexible Struktur des Zeltes entsprach dem nomadischen Anspruch, die Idee jeweils situativ neu zu entfalten, zu modulieren, zu rekonfigurieren. Das Zelt wurde von del Vals Team „gehackt“, nachgebaut und als Körper-Extension begriffen.

Innerhalb dieser so entstandenen, flexiblen Architektur befindet sich der menschliche Körper. Durch dessen Bewegungen transformiert die Architektur und gleichzeitig modifiziert die Architektur durch ihre gewisse Schwerfälligkeit, Dynamik und Spannung die Körperbewegung in nicht vorhersehbarer Weise. Del Val bezeichnet die physische Struktur daher als lebendige „Kreatur“, eine Technik für Improvisation anstatt einer vorprogrammierten Choreografie.

Die gleiche Bewegung wird niemals den gleichen Effekt haben. Vielmehr ist die Art, wie die Körperbewegungen mit der flexiblen Architektur transponiert werden, nicht linear. Im Entwicklungsprozess ging es darum, einerseits absolute Kontrolle zu vermeiden und andererseits eine Balance zu finden zwischen demKörper-Gefühl in Beziehung zur Umgebung zu stehen ohne das diese Relation komplett zufällig wirkt.

Erreicht wurde dieses sensitive Erfahrung durch die Kombination der Daten zweier Accelerometer, welche die Dynamik und Richtung der Körperbewegung messen. Um die 50 Variablen beeinflussten die Parameterbereiche zur Generierung von Sound und Bildprojektion. Hierzu wurde die Entwicklerumgebung MAX/MSP genutzt, welche eine vielschichtige Sound-Landschaft aus Stimme, Samples und synthetische Klängen sowie das Bild in Relation zur Körperbewegung geniert.

Die „Haut“ jener Kreatur besteht aus transparenten Stoff und dient als Projektionsfläche für eine amorphe, digitale Struktur, die mit der Körperbewegung „mutiert“, d. h. auch die visuelle Erscheinung steht in unmittelbarer Relation zum Körper. Doch eigentlich geht es del Val gar nicht um das „Aussehen“ Architektur, sondern um das „Fühlen“ der Kreatur.

Die physische Struktur fordert und fördert die kinästhetische Wahrnehmung des Körpers heraus. Steht man drinnen, d. h. ist man in die situative Medienökologie involviert, sieht man weder die Form der Installation noch deren Projektionen – man ist ein (intra-)aktiver Teil des „Schwarms“. Jede*r Involvierte macht daher eine andere Erfahrung.

Deshalb stand besonders in Metaformance die Frage im Mittelpunkt, wie das Publikum involviert werden kann. Welche Bedingungen müssen geschaffen werden, um das Publikum aus ihrer zentralperspektivischen Wahrnehmung „heraus zu reißen“ und in eine immersive Situation der Propriozeption eintauchen zu lassen?

Char Davis: Osmose (1995)

Wir kommen zu einer Technologie, die derzeit Hochkonjunktur feiert: Virtual Reality (VR)- Technologie. Bereits im Jahr 1995 schuf die kanadische Künstlerin Char Davis zusammen mit ihrem Team die immersive interaktive VR-Umgebung Osmose. (Ich kann leider nichts über die finanzielle Ermöglichung dieses Projektes im Netz finden.)

Auf der Webseite des Projektes findet sich auch eine detaillierte Liste aller technischen Spezifikationen. Nebst einem Head-Mounted-Display und PC kommt zudem ein Weste zur Messung der Atemtätigkeit und Aufzeichnung (Tracking) der Oberkörperbewegung bzw. dessen Gleichgewicht zum Einsatz.

Die auf diese Weise gewonnen Daten werden in eine virtuelle Fortbewegung übersetzt, womit keine konventionellen Eingabegeräte wie bspw. ein Joystick verwendet werden. Das Ein- und Ausatmen bewirkt eine fließende Auf- und Abbewegung, das Beugen des Oberkörpers eine fließende Bewegung in die entsprechende Richtung durch den digitalen Raum. Als „Immersant*in“ schwebt man durch den digitalen Raum.

Und genauso Fließend wie die Körperbewegungen sind, generieren sich auch die Bild- und Klangwelten in Osmose. Man erlebt osmotische Übergänge von einer Bildsphäre zur nächsten, erkennt, wie die alte Sphäre langsam vergeht und mit der neuen amalgamiert. Dies bedeutet für die damalige Zeit, dass der Computer mit einer hohe Rechenleistung performte. Daher wurde ein Supercomputer notwendig (SOFTIMAGE® 3|D modeling, animation and development environment; Silicon Graphics Onyx2 Infinite Reality visualization supercomputer).

In Osmose stellt Davies konventionelle Ansätze der virtuellen Realität in Frage und widersteht der Simulation eines perspektivischen Raumes. Zwar erscheint zunächst mit Aufsetzen und Anlegen der Hardware und beim Betreten des digitalen Raumes ein kartesianisches Raumgitter zur Orientierung, doch verfliegt dieses mit dem ersten Atemzug des/der Immersant*in und Bildwelten, die metaphorisch an Natur erinnern, erscheinen: eine Lichtung, ein Wald, Bäume, Blätter, Wolken, ein Teich, unterirdische Höhlen und ein Abgrund.

Im Gegensatz zum hartkantigen Realismus der meisten 3D-Computergrafiken ist die visuelle Ästhetik von Osmose semi-gegenständlich/semi-abstrakt und durchscheinend und besteht aus halbtransparenten Texturen und fließenden Partikeln. Diese Darstellungsweise – sowie auch die leiblich-durchdrungene Navigation durch den Raum – dient eher der „Evozierung“ als der Illustration und Simulation.

When art evokes, it’s drawing on the experiences of the user. It becomes interactive on a much more subtle level. To me, Osmose looks at immersive space as a place where we can explore what it means to be embodied conscious beings.

Char Davis, as cited in Eric Davis, „Osmose, Wired, 4.08 (August 1996)“.

Wenn der VR-Raum seiner Konventionen entkleidet wird, entfaltet sich eine faszinierende räumlich-zeitliche Rahmung, die offen genug ist, um eine subjektive Erfahrung des „In-der-Welt-Seins“ zu evozieren. Das Selbst kann als verkörpertes Bewusstsein in einem umhüllenden Raum erforscht werden, wobei die Grenzen zwischen Innen/Außen und Geist/Körper sich auflösen.

Das generierte Naturerlebnis wird von zwei Textwelten begleitet. Zum einen erscheinen Textfragmente von Char und weiteren Autoren zu den Begriffen Natur, Technik und Körper. Zum anderen sind Blöcke aus Codesprache zu sehen, die Teile der zugrunde liegenden Software offenbaren, womit der Ursprung des virtuellen Ermöglichungsraumes transparent wird. Durch die Herauslösung des Codes aus der Ausrichtung einer ausschließlich technologischen Ausführung wird ermöglicht, dass der Bedeutungsüberschuss, der dem sprachlichen Code innewohnt, frei wird und damit seine Metaphern und Assoziationsspielräume wirken können.

Die Klänge in Osmose sind räumlich mehrdimensional und wurden so konzipiert, dass sie in Relation zur Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit stehen, d. h. sich mit und durch diese verändern. Die Quelle ihrer Komplexität ist ein Sampling einer männlichen und einer weiblichen Stimme.

Die öffentliche Installation von Osmose umfasst eine groß angelegte stereoskopische Video- und Audioprojektion von Bildern und Tönen, die in Echtzeit vom Standpunkt des eintauchenden Individuums (des/der „Immersant*in“) aus übertragen werden: Diese Projektion ermöglicht es einem Publikum, das eine Polarisationsbrille trägt, jeder immersiven Reise beizuwohnen, während sie sich entfaltet.

Obwohl das Eintauchen in einen privaten Bereich stattfindet, ermöglicht eine durchscheinende Leinwand von gleicher Größe wie der Videobildschirm dem Publikum, die Körpergesten des/der Immersant*in als poetische Schattensilhouette zu beobachten.

Nach fünfzehn Minuten der Reise zieht sich die digitale Lebenswelt langsam, aber unwiederbringlich zurück und die Reise ist beendet.

Manuel Rossner: Surprisingly This Rather Works (2020)

Diese Arbeit von Manuel Rossner entstand während des Lockdowns im Rahmen einer Gruppenausstellung für die KÖNIG GALERIE und war von dieser auch initiiert. Als Teil der Reihe „The Artist Is Online“ schuf Rossner einer Game für das Smartphone, welches über den App Store bzw. den Google Play Store installiert und gespielt werden kann.

Die Arbeit Surprisingly This Rather Works zeigt digitale Objekte, die die Grenze zwischen Malerei und Skulptur überschreiten und als ein Parcour angelegt sind. Die amorphen, auf Hochglanz polierten, glatten Gebilde in schrillen Neonfarben stülpen und quetschen sich in die Räumlichkeiten der der brutalistischen Kirche St. Agnes. Dabei wirken die Kunstwerke trotz Interaktivität trotzdem distanziert und sind haptisch nicht wirklich erfassbar.

Ich verwandle die brutalistische Kirche St. Agnes in eine Spielumgebung, die von der Game Show American Gladiators aus den 1990er-Jahren und so genannten Gyms inspiriert wurde, die Unternehmen wie OpenAI in San Francisco für die Spitzenforschung im Bereich der künstlichen Intelligenz nutzen. […] Meine Ausstellung ist zugleich räumliche Intervention und virtuelle Erweiterung.

Manuel Rossner im Interview

Mittels eines Avatar kann ich den Parcour „ablaufen“ und springen, ähnlich einem Jump und Run -Spiels. Allerdings verlangt diese Performance viel Fingerübung und reduziert den Körper und seine Bewegungsvielfalt auf zwei Daumen. (Ich habe nach drei Minuten aufgehört die Buttons zu klicken, weil ich mit dem Avatar irgendwie feststeckte.) Bei dieser Form der Bewegungs-Reduktion und Diminuierung meiner Selbst zu einer niedlichen Spielfigur bleibt nicht vielmehr zu sagen.

(Ich habe diese digitale Arbeit dennoch in meinen Kanon aufgenommen, weil sie in der Coronazeit entstanden ist.)

Jean-Marc Matos & Sarah Fdili Alaoui: Radical Choreographic Object [RCO] (2017-2018)

Auf eine ganz andere Weise tritt das Smartphone als handelnder Akteur in dieser sozio-technologischen Situation auf. Die choreographische Arbeit Radical Choreographic Object von Jean-Marc Matos und Sarah Fdili Alaoui ist eine partizipative und ortsspezifische Performance, die auf der Interaktion mit und über Smartphones abläuft und damit ein weit größeres Potenzial der „Mini-Computer“ anzapft als das bloße texten und telefonieren.

Entwickelt wurde die Performance in Kooperation mit Kdance, einer französischen Tanzkompanie, die mit ihren Projekten die Relation zwischen lebendigen Körper, repräsentierten oder virtuellen Körper auslotet und in diesem Sinne neue Medientechnologien künstlerisch befragt. Gefördert wurde dieses Projekt von der Stadt Toulouse, dem regional Council Occitanie Pyrénées Méditerranée und dem local Council of the Haute-Garonne.

Diese Choreographie passt sich situationsbedingt an die Anzahl der Teilnehmer aus dem Publikum, die architektonischen Räume und die Anzahl der Tanzperformer an und schafft damit eine im Sinne von Isabelle Stengers soziale „technology of belonging“ ( STENGERS, Isabelle: An Ecology Of Practices. culturalstudiesreview Vol. 11 (Nr. 1, 2005), S. 193.) Dadurch erhalten die jeweiligen Relationen zwischen den Akteuren eine sich wandelnde Skalierung. Das Verhältnis von „Publikum“ und „Darsteller“ wird symmetriert.

Weiterer wichtiger Akteur ist das Smartphone. Durch eine lokales Netzwerk werden einerseits dem Publikum Regeln und Anweisungen für ihre Partizipation unterbreitet, die nach und nach entdeckt werden und somit den choreografischen Prozess bei Aktivierung modifizieren. Die Reihenfolge der Regeln, d.h. der Partizipations-Angebote ist choreografisch festgelegt.

Erhält ein Teilnehmender ein Angebot zur Interaktion mit den Tanz-Performanden kann sie*er selbst entscheiden, ob und in welcher Weise er dieser Regel nachkommt. Diese Weise modifiziert die Tanz-Performance, wobei auch die Performanden je nach der Seinsweise des Teilnehmenden (jung, alt, dynamisch, eingeschränkt, etc.) entscheiden kann, wie er*sie darauf reagiert.

Des weiteren werden Daten der im Smartphone integrierten Accelorometer und Gyroskops genutzt sowie die GEO-Daten zur Modifizierung der Sound-Umgebung. Die Soundlandschaft ist ebenfalls in bestimmte Parts eingeteilt (leise, dynamisch, etc.), die unterschiedlich angeordnet werden können je nach Anzahl der Teilnehmenden und Tanz-Performanden sowie des räumlichen Settings. Dadurch variiert der zeitliche Rahmen der gesamten Choreografie.

Jeder Part hat seine pre-definierten Regeln zur Tanz-Bewegung, welche durch die Art und Weise der Interaktion, sowie Anzahl der Teilnehmenden und Modifizierung des Sounds zu jeweils neuen Ausprägungen gelangt und sich die Performance daher niemals gleicht.

Die mediale Situation entsteht trotz komplexen Regelwerks und zahlreicher Subregeln immer wieder neu. Für die Tanz-Performanden besteht die Herausforderung gerade darin, dass sie situativ ihre Bewegung stets auf neue anpassen, womit ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf der eigenen Handlungsmacht liegt, sondern genauso auf der fremden Agency – der Soundumgebung und dem teilnehmenden Publikum. Es entsteht somit eine Situation verteilter Verantwortung für das gesamte sozio-technologische Gefüge.

Diese Performance realisiert eine soziale Ökologie des Spiels. Anstelle der Installation von Präfigurationen, des Meßbaren und Vorhersehbaren, eignet sich in der Performance das soziale Gefüge jene Risiken der Unvorhersehbarkeit sowie die Entstehung des Unerwarteten dynamisch an.

Britt Hatzius & Thomas Tajo: Listening Distance (2019)

Mit der audiovisuelle Installation Listening Distance (Teaser-Video auf Vimeo) von Britt Hatzius wird das auditive Erleben des blinden Thomas Tajo porträtiert. Die Betrachtenden werden zu Zuhörenden und die synästhetischen Fähigkeiten des Menschen auf eindrucksvolle Weise gefördert. (Das Projekt indes ist von dem Fond Darstellende Künste finanziell gefördert.)

Der Ausdruck „Listening Distance“ beschreibt technisch die ideale Hörposition zwischen zwei Lautsprechern. Die Installation realisiert einen eher metaphorische und wortwörtliche Lesart des Begriffes: Zum einen den Akt des Zuhörens und zum anderen das Wahrnehmen von Abstand. Diese beiden Aspekte sind grundlegend für die Technik der Echolokalisierung, d. h. der Fähigkeit die Umgebung durch Schall auf Distanz zu orten.

Diese Technik wenden auch Feldermäuse, Delfine oder in Höhlen lebende Vögel an, um sich in ihrer Umgebung zu orientieren und entfernte Objekte wahrzunehmen. Nicht durch den Nahsinn der Berührung wird ein Raum erkundet, sondern über den Klang versucht sich durch diesen zu navigieren. So versuchen etwa blinde Menschen durch Zugenschnalzer und deren akustische Reflektion ihre Wahrnehmung zu erweitern und ein virtuelles Bild der nicht-sichtbaren Umgebung zu generieren. Diese Technik für Blinde bringt Thomas Tajo anderen blinden Menschen bei.

Die Idee des Projektes ist es, durch eine binaurale Aufnahmetechnik sehende Menschen in diese Form der Weltwahrnehmung eintauchen zu lassen. Thomas Tajo erscheint auf einem großen Monitor, die Betrachtenden sitzen mit Kopfhörern vor dem Monitor. Er beginnt von seiner Wahrnehmung zu berichten und das Bild faded langsam ins Schwarz, so dass die Zuhörenden nun wie Blinde in völliger Dunkelheit sind.

Durch Technologie und Technik der Echolokation begegnen die Zuhörenden virtuell Tajo und entdecken ihrerseits eigene Wahrnehmungsqualitäten, die jenseits der sonst priorisierten Sehgewohnheit liegen. Durch die technische Ermöglichung der veränderten Weltwahrnehmung, ist es möglich sich in das Blind-Sein hinein zu versetzen, jene Art und Weise des Weltzugangs zu erfahren, zu teilen, anzuerkennen und wertzuschätzen. Mit dem Involviert-Sein erscheint das Blind-Sein nicht weiter als ein Mangel, eine Behinderung oder schiere Unfähigkeit, sondern als qualitative Andersartigkeit in der Welterfahrung.

ORF musikprotokoll: Tingles & Clicks (2020)

Das Projekt Tingles & Clicks des ORF Musikprotokolls funktioniert ebenfalls rein auf der auditiven Ebene und stellt ein Gegengewicht zur derzeitigen Streaming-Kultur dar. Die technische Rahmung ist vorgegeben und noch bis zum 15. September 2020 können Soundkünstler*innen ihre Serie an Soundobjekten und Ambient Audio Dateien einsenden. Die Soundlandschaften sind ab dem musikprotokoll Festival vom 7.-11.10.2020 erlebbar.

Schema aus Konzept

Das Konzept stammt von Fränk Zimmer und das Projekt entsteht in Kooperation mit dem IEM – Institut für Elektronische Musik und Akustik der Kunstuniversität Graz.

Werden die Soundlandschaften über die Projekt-Webseite geöffnet, können sich die Zuhörenden durch diese navigieren und dabei das Phänomen des ASMR erfahren. Die Erfahrung eines kribbelnden, angenehm empfundenen Gefühls auf der Haut (sogenannte Tingles) wird sowohl durch die Anordnung der einzelnen Soundobjekte und Fieldrecordings als auch technisch durch das Tracking der Kopfbewegung ausgelöst.

Das Tracking der Kopfbewegung übernimmt dabei eine Webkamera, so dass die immersive Hörerfahrung – in einer anderen Umgebung zu sein – in den eigenen vier Wänden zu Hause erlebt werden kann. Der Sichtbereich der Kamera ist dabei genauso ausgedehnt, wie die virtuelle Soundlandschaft. Je nach dem wo auf der x- und y-Achse und wie entfernt die Soundobjekte liegen, sind diese in Abhängigkeit von der Kopfposition zu hören. Zusätzlich ist der gesamte Bereich in drei vertikale Sektoren eingeteilt, die mit je unterschiedlichen Ambientsounds hinterlegt sind.

Fazit

Schwerpunkt meiner Recherche bilden interaktive Installationen und Performances. Empirisch untersetzt wird damit eine These von Martina Leeker, wonach die Kultur des Digitalen immer auch eine höchst performative Kultur ist. (Vgl. Martina Leeker, Imanuel Schipper, Timon Beyes (Hrsg.): Performing the Digital Performativity and Performance Studies in Digital Cultures, Bielefeld: transcript Verlag, 2017, Einleitung)

In den vorgestellten Arbeiten von Klaus Nicolai, Jaime de Val, Char Davis, Jean-Marc Matos und Sarah Fdili Alaoui, Britt Hatzius und Thomas Tajo sowie dem Konzept „Tingles and Click“ des ORF Musikprotokolls wird die Rolle der Betrachtenden bzw. des Publikums in dem Sinne neu verhandelt, dass diese als Produzent*innen der Welterfahrung bzw. -erzeugung im sozio-technologischen Gefüge performen. Das strukturelle Verhältnis zwischen Produzent und Rezipient wird symmetriert. 

Forciert wird mit den je unterschiedlichen techno-experimentellen Situationen, die menschliche Wahrnehmung insofern zu erweitern, dass die gewohnheitsmäßige Selbst- und Fremdwahrnehmung in Frage gestellt wird. Es ergeben sich ontologischen Verunsicherungen, die für etwas viel Komplexeres, Spielerisches und Disparates das existenzielle Feld öffnen. 

Vor allem bei den Arbeiten European Tele-Plateaus, Metatopia, RCO und Osmose geht es dabei weniger um eine ergebnis-orientierte Kontrolle, sondern vielmehr um einen Balanceakt zwischen absoluter Kontrolle und bloßer Willkür. Diese funktionelle Balance erzeugt ein Gefühl der Zugehörigkeit und lässt Neues auf unvorhergesehen und nahezu magischer Weise emergieren. Daher ist mit diesem prozessualen Balanceakt nicht immer klar, wer oder was Mittel oder Zweck ist bzw. welche Ursache zu welcher Wirkung führt.

Durch diesen Balanceakt, der sich in überraschender Weise sowohl auf Seiten der Entwickler*innen als auch auf der Seite des partizipativen Publikums  ereignet, werden bestehende ontologische Grenzen (zeitweise) überschritten. Diese Werke fordern und fördern durch ihren höchst performativen Charakter ein medienökologisches Bewusstsein für die eigene wie fremde Handlungsmacht (Agency).

Ergebnisse

Die meiner Recherche zugrundeliegende Frage – wie eine neue Kultur des Digitalen in ihren Effekten wahrnehmbar wird – muss rückblickend insofern modifiziert werden als das in Bezug auf meine Rechercheobjekte per se der Begriff „Kultur des Digitalen“ nicht zutreffend ist. Ich folge mit dieser Annahme einer Definition von Sybille Krämer (https://youtu.be/S8Mtjqil5_s?t=1750, min 29:20), wonach das Digitale bedeutet, ein Kontinuum  in einzelne Element zu zerlegen, codieren und anschließend neu zusammen zu fügen. Es ist damit eine Grammatikalisierung, ein Ordnungssystem gemeint, welches eine Transparenz von formaler Logik emöglicht.

Jedoch wird mit der stärkeren Einbeziehung der Rezipienten im Entwicklungsprozess jener medienkünstlerischen Arbeiten deutlich, dass die digital durchdrängte Welterzeugungen ihre Schleife immer durch den menschlichen Körper ziehen und stets Übersetzungsleistungen fordern. 

Damit wird deutlich, dass Digital und Analog nicht als ein Gegensatzpaar zu betrachtet sind, sondern als Komplement: Diese beiden verschiedenen Modi des Seins fordern und fördern Übersetzungsleistungen (Transduktionen), welche Neues, d. h. Bedeutungen, generieren und dadurch Transformationen realisieren. Auf Grund ihrer verschiedenen Seinsweise sind deren jeweiligen Übersetzungsleistungen von Störungen geprägt und können auch bis zur völligen Unübersetzbarkeit reichen.

Während die Transmission des digitalen Lichtes zur Netzhaut des Auges scheinbar unmittelbar geschieht, gestaltet sich die Transmission von analogen Körperbewegungen in die digitalen Berechnung als ein Verlust an Mehrdeutigkeit. Die Passage zwischen Körper und Sensorischem ist von vielen Interferenzen und Multivalenzen gekennzeichnet, die weit mehr Informationen generieren als von der menschlichen Spezies tatsächlich wahrgenommen werden kann.

Daher ließe sich festhalten, dass sich die menschliche Spezies in einer weitgehend unbestimmten Sphäre bzw. einer spezifischen, partikularen Wahrnehmungsarchitektur befindet, obgleich die Operationen der Softwareagenten im Wesentlichen determiniert sind. Dennoch sind diese programmatischen Determinierungen als Regeln zu verstehen, die durch einen Bedeutungsüberschuss überstiegen werden können. Im Überteigen von Strukturen liegt das virtuelle Vermögen des menschlichen Körpers: Das WIE der Technik verbündet und verbindet sich mit dem WARUM des Handelns.

Entscheidend ist, inwiefern die Körper der jeweiligen Entwickler*innen, dieses leibliche Vermögen in ihrer medialen Gebrauchsweise mitdenken und als ein verkörpertes Wissen in die Entwicklung der technischen Körper mit einbeziehen. Daher gewinnt die hier vorgeschlagene Betrachtungsweise techno-experimenteller Situationen auch dadurch an Gewichtung, wenn die Genese medienkünstlerischer Arbeiten stärker mit in die Analyse einbezogen wird. Dadurch werden die künstlerischen Ergebnisse nicht von der Bedeutung ihrer Entstehung abgekoppelt.

Um beim Begriff der neuen Kultur des Digitalen zu bleiben, so trägt diese der leiblichen Bedingtheit unserer Welterfahrung mit Medientechnologien Rechnung. Sie reduziert die Weltkonstituierung nicht auf einfache Input- und Outputsignale, sondern lässt Unbestimmtheitsräume innerhalb der Transduktionen zu. Dadurch erst entsteht ein Spielraum für Intra-Aktionen, welcher Transformation nicht lediglich simuliert, sondern Unvorhergesehenes bzw. neue Bedeutungshorizonte generiert.

Kritik

Zugegeben, meine Recherche stellt nur einen winzigen Ausschnitt vergangener wie gegenwärtiger medienkünstlerischer Produktionen dar. Dennoch ist die Menge von zehn Arbeiten hoch genug, um einen Einblick in die Wirkungsweise von inter- und intra-aktiven, medientechnologisch bedingten Arbeiten zu geben. Gleichzeitig ist die Anzahl gering genug, um in der Kürze der Stipendiumszeit eine qualitative Evaluation vornehmen zu können. 

Mit meiner Wahl an Kriterien zur Evaluation verlagerte sich meine Analyse auf formale bzw. prozessuale und weniger auf inhaltliche Aspekte. Mit dieser Fokussierung war es jedoch möglich, die strukturellen wie funktionellen Unterschiede zwischen den ausgewählten Werken herauszuarbeiten und Kennzeichen eines (neuen) Ethos im Umgang mit Medientechnologien zu konturieren.

Mit Blick auf das Ergebnis dieser Recherche wird auch ersichtlich, dass diese immersiven medienkünstlerischen Arbeiten oftmals nur leibhaftig in ihrer Wirkweise erfahren werden können. Mir blieben jedoch lediglich Dokumentationsvideos, Interviews mit den Künstler*innen und der Rückgriff auf meine bisherigen Erfahrungswerte aus eigenen künstlerischen Produktionen bzw. meine Erlebnisse mit interaktiven performativen Arbeiten zu diversen Medienkunst-Festivals. 

Meine Recherche basiert im Großen und Ganzen auf medialen Übersetzungsleistungen. Schließlich stellt auch die Übersetzung in das Medium der Schrift eine weitere Transduktion dar. Jede dieser Transduktionen ist immer von Unter- oder Überbelichtungen bzw. Verlusten oder Multivalenzen gekennzeichnet. Diese „Störungen“ führen jedoch zu neuen Sichtweisen; sie haben ihre je eigenen Qualitäten. Daher geht es hier weit mehr um die Strukturierung meines Forschungs- und Wahrnehmungsfeldes als um das Finden von endgültige Theorien.

Konsequenzen

Die hier vorgeschlagene mediale Gebrauchsweise erfordert jahrelange Forschungsarbeit mit Medientechnologien und eine transdisziplinäre Expertise, in der sowohl Fachwissen aus den künstlerischen Disziplinen als auch Expertise aus der angewandten Medieninformatik zusammen kommen. Des Weiteren bedarf es technologische wie humane Ressourcen und nicht zuletzt eine ausreichende finanzielle Untersetzung, die bei der Mehrzahl meiner Rechercheobjekte institutionell gesichert war.

Unter dem hier konturierten Ethos können neue digitale Interaktionstechniken auf eine Vielzahl an Software zurückgreifen, die opensource lizensiert sind. Oftmals sind diese Angebote jedoch schlecht dokumentiert oder bereist veraltet. Daher wäre hier eine weitere Recherche notwendig.

In philosophischer Hinsicht, bleibt die Frage nach der Begrifflichkeit offen: Können wir überhaupt von einer „neuen Kultur des Digitalen“ sprechen? Oder bezeichnet jene Digitalität eine regelbasierte und reduktive Kulturtechnik der Zeichen, die zwischen Auge, Hand und Maschine operiert und die auf die  hier vorgestellten Arbeiten gar nicht zutreffend ist?

Ausblick

Gerade weil sich in der Kultur des Digitalen, das Wie vom Warum ablöst, ist die künstlerische Begleitung jeglicher Digitalisierungsprozesse so enorm wichtig. Erst der in der menschlichen Spezies innewohnende Unbestimmtheitsspielraum eröffnet Wege auf eine unbestimmte Zukunft, der auf technologische Prozesse projiziert werden muss. Technologische Entwicklungen allein den Technokraten zu überlassen wäre fatal, weil dadurch bereist existierende Ordnungstrukturen lediglich reproduziert würden. 

Auf meine eigene künstlerische Praxis bezogen, gilt daher mein verstärktes Interesse solche Unbestimmtheisträume mit Medientechnologien auszuloten, d. h. Raum für Multivalenzen zu schaffen. Technische Möglichkeiten, wie jene Unbestimmtheitsspielräume in die Transduktionen implementiert werden können, wurden mir in den Interviews mit den Künstler*innen aufgezeigt und beschrieben. Sie beeinflussen nachhaltig die Entwicklungsarbeit an meinem neuen Projekt VIRTUAL CHOIR.

Die strukturellen und funktionalen Aspekte einer Live-Video-Show sowie ihre ethischen Implikationen und transformativen Potentiale möchte ich in einer künstlerischen Lecture Performance mit Hilfe von Zoom untersuchen. Zoom-Web-Konferenzen wurden in der Koronazeit zu einer medienökologischen Signatur und provozieren folgende Fragen Welche ästhetischen Entscheidungen begleiten dieses Format und strukturieren diese sozio-technologische Zusammenarbeit? Welche Wechselwirkungen gibt es innerhalb der medialen Situation?

Diese zentralen Fragen werden theoretisch u.a. von den Gedanken des Soziologen Bruno Latour sowie der Philosophen Maurice Merleau-Ponty und Gilbert Simondon umrahmt. In meiner Lecture Performance verweben sich wissenschaftliche Erklärungen und philosophische Erkenntnisse mit der szenischen Erzählung sowie technischen Besonderheiten.

Die entstehenden Interferenzen veranschaulichen, exemplifizieren, verschieben, verfälschen oder zitieren szenisch einzelne Thesen, Ideen und Fragen zu perzeptiven Aspekten von Rahmung, Nähe und Distanz, Präsenz und Selbstobjektivierung, Zeitverzögerungen und Belichtungsbedingungen. Mit dieser Methode der Lecture Performance wird das Medium direkt angesprochen, statt nur darüber zu sprechen.